„Ganz alte Geschichten mit Zukunft“

Gruppenbild

Was die Produktion von roten Bäckchen mit der Anbahnung von Lebenstüchtigkeit und Schlüsselqualifikationen zu tun hat

Teil 1 : Draußen in der Urzeit

Ein außerschulisches Nachmittags- und Wochenendprojekt für unterstützungsbedürftige SchülerInnen der Förderschule Lernen Kopernikusstraße“

Wir haben das von Ihrer Stiftung mit einem großzügigen Betrag mitgeförderte Projekt von August 2017 bis Januar 2018 mit 16 Kindern einer 6. Klasse aus der Sicht aller Beteiligten mit einem Museumspädagogen und einem Sonderschullehrer lehr- und erfolgreich durchgeführt.

Neben den wöchentlichen Arbeitsterminen auf dem Schulgelände und in der Schulumgebung projektbezogene Aktivitäten in unserer Region statt.

Dazu zählten u. a.:

  • Naturerkundung in der Rheinaue in Duisburg-Walsum mit Herrn Scholz von der Duisburger Naturwerkstatt (August und Januar)
  • Outdoor-Wochenende mit Herrn Ernst vom Kreissportbund Kleve und dem Museumspädagogen Herrn Knöpges auf dem Schulgelände (Oktober)
  • Abendkanufahrt auf der Lippe zwischen Krudenburg und Wesel („Mondscheinpaddeln“) mit der Firma „Lebensart“ (November)
  • Besuch auf einem Lama-Hof im Duisburger Süden (Dezember und Januar).

Wir begannen diese Arbeitsgemeinschaft, die wir griffig „Meine Geschichte-AG“ nannten, mit der Einbindung von uns als Individuen in die ganz frühe Geschichte unserer Gattung und betrachteten dazu Bilder von unseren Urzeit-„Verwandten“, von denen weder sie selbst noch wir heute beim Anschauen dieser Darstellungen (die ja Vermutungen darüber sind, wie es gewesen sein und ausgesehen haben könnte) sicher sagen können, ob das noch Affen oder schon Menschen sind - vielleicht auch beides?

Über die Bedeutung des Hinterlassens von Spuren und ihres möglichen Wiederauffindens durch genauen Sinneseinsatz, durch zufälliges Drüber- Stolpern, durch ziel-gerichtetes Graben, Sammeln, Ordnen und anschließendes möglichst begründetes Interpretieren schlugen wir den Bogen zur Erforschung der eigenen natürlichen und historischen Umgebung.

Um das als selbstbewusste Er-Forscher realisieren zu können, schafften wir für alle Kinder einfache schwarze Rucksäcke an, rüsteten alle SchülerInnen mit kleinen Minispaten aus, organisierten uns Becherlupen sowie alle möglichen Sammelbehälter und zogen los.

Zunächst ging es mit Herrn Scholz in die Rheinaue, wo es große und kleine, (nicht) essbare Pflanzen und Tiere zu bestaunen und zu sammeln gab.

Bei der Nachbereitung in der darauf folgenden Woche stellte sich - wie auch später immer wieder! - etwas sicher schon im Urzeitalltag (aber auch heute noch!) sehr Zeitraubendes und gleichwohl Notwendiges heraus: man muss Erfahrenes und Erlerntes immer wieder wiederholen und aktualisieren, sonst geht es mit allen Konsequenzen verloren.

Das war und ist für alle mühsam - erst recht aber für solche Kinder, von denen wir in sonderpädagogischen Gutachten oft notieren, dass sie nur eine begrenzte Speicherkapazität besitzen!

Die gesammelten Pflanzen vermoderten/ verwesten trotz Kühlschrank- Aufbewahrung von Woche zu Woche mehr; und es wurde allen klar, dass davon (wie von Tieren und von uns Menschen auch ) bald nichts mehr übrig sein würde.

Nicht nur an dieser Stelle ergaben sich Gesprächsbezüge zu Tod und Vergänglichkeit; zu dem, was von uns bleibt; zu unseren Eingriffen in die Natur - Töten und Essen von Nutz-Tieren inkl..

Dann begann unsere Erforschung des versunkenen Duisburger Stadtteils Alsum, auf dem seit den 50er- Jahren des letzten Jahrhunderts ein (Bau-) Schuttberg aufgeschüttet wurde.

Inzwischen mit Bäumen und Sträuchern ziemlich zugewachsen ist diese mäßige Erhöhung ein herrlicher Aussichtspunkt auf den Rhein und die ihm vorgelagerten Wiesen sowie das nahe Thyssen- Hochofen- und Stahlwerk- Gelände.

Wir sammelten dort querbeet streunend Holz zum Feuermachen, Stöcke und Steine zur Werkzeugbearbeitung, bauten kleine Holz- und Gestrüpphütten, verpflegten uns mit Beeren und an einem wilden Apfelbaum, hätten fast einen Fisch gefangen, gruben mit den Spaten zwar keine Urzeitknochen, sondern „nur“ verrostete Alltagsobjekte aus dem 20. Jahrhundert aus, standen etwas ängstlich mitten in einer Schafherde mit „süßen“ Lämmern (die später mal von uns gegessen werden?), stillten das Blut einer kleinen Wunde mit einem Huflattichblatt und ließen uns dafür und für viele andere Aktivitäten ungehetzt viel Zeit.

Immer wieder versammelten wir die Kinder für einige Minuten um uns und stellten sicht-, hör-, spür (kurzum erfahr-)bare historische Bezüge her, um sie dann wieder zum Gucken, Suchen und Sammeln „von der Kette zu lassen“.

Wie kamen die Menschen früher auf die andere Seite des Flusses? Wie transportierten sie Sachen, Tiere und sich ans andere Ufer? Wo siedelten sie? Natürlich da, wo es Wasser gab, aber nicht zu dicht dran wegen des Hochwassers. Besser hier oben auf dem kleinen Berg mit gutem Blick auf Fluss und Wiesen, um eventuelle Feinde und Beutetiere zu sehen, gleichzeitig geschützt mitten in dem kleinen Wald, der viele Materialien zur Ernährung sowie Werkzeug- und Waffenherstellung bereit hielt. Aber wie lange dauerte es, um von hier oben an den Fluss zu laufen und von dort Wasser zu der auf dem Berg gelegenen Siedlung zu transportieren (und womit und wo drin)?

Mehrfach teilten wir Betreuer uns während dieser Exkursionen uns unsere deckungsgleichen Einschätzungen mit: Genau das wollten wir diesem Projekt erreichen! Und: mehr rote Bäckchen geht nicht!

Wir hörten während dieser Ausflüge keine Klagen und kein Gemecker über das viele Bewegen, über das Einhalten unserer Regeln, über anstrengende Auf- und Abstiege, schmutzige Kleidung, nasse Schuhe und kleine Schürfwunden.

Solche Töne gab es allerdings immer wieder während der regulären Arbeitstermine zu hören, wenn es z. B um langwierige, nicht immer gelingende Praxis ging (das Fertigstellen verschiedener Werkzeuge und Waffen „fluppt“ nicht immer so schnell, wie man das möchte./ Feuermachen mit ursprünglichen Mitteln ist eine echte Kunst, die puristisch betrachtet vielen gar nicht und nur wenigen selten gelingt).

Unterbrochen wurde unsere Alsum- Trilogie von den Herbstferien, zu deren Beginn wir auf dem Schulgelände am ersten Wochenende steinzeitliches (Über-) Leben probten.

Erfahrungsgemäß führen Übernachtungen auf dem Schulgelände oft dazu, dass unbeteiligte, aber informierte „Nervensägen“ zur Schlafenszeit an Zäunen und Toren stehen und sich wie störende Gaffer verhalten.

Wir blieben deshalb bis in die Dunkelheit auf dem Schulgelände; dann wurden die Kinder von ihren Eltern abgeholt.

Wir trainierten wieder das Feuermachen; wir versuchten wieder, alle möglichen Werkzeuge nicht nur her-, sondern auch fertigzustellen; wir durchquerten barfüßig die renaturierte kleine Emscher, machten eine Nachtwanderung durch „unseren“ bei Dunkelheit doch etwas unheimlichen Iltispark (dabei versuchten kleine Gruppen immer wieder, gar nicht so kurze Strecken stur nach Osten oder Westen zu gehen), bauten uns aus großen und kleinen Zweigen und Ästen vom Emscherufer schützende Unterstände, saßen auf Fellen um das (von vorne!) wärmende Feuer und aßen die in einem Erdloch mit heißen Steinen zubereitete Gemüsesuppe-Stockbrot inkl. !

An diesem Wochenende gab es immer wieder auch Phasen, in denen - wie im richtigen Leben heute und auch schon ganz früher - wenig passierte (also keine Action geboten wurde).

Das einfach auszuhalten, fällt unterschiedlichen Menschen gleich welchen Alters unterschiedlich schwer.

Wir überbrückten solche Zeiten bisweilen mit kleinen Fang-/Jagdspielen, mit kurzen historischen „breaks“, die uns schon am Alsumer Berg aufmerksame Zuhörer gesichert hatten, und mit dem Erzählen von Geschichten für die ums Feuer sitzenden Kinder.

Nach den Herbstferien galt alle Aufmerksamkeit schon der Vorbereitung des Mondscheinpaddelns auf der Lippe.

Gut ausgerüstet begann unsere Fahrt um 18 Uhr nach dem Sonnenuntergang.

Es sollte wegen der besseren Sicht Vollmond sein. Aber der Vollmond (und auch die gemeinsam mit ihm eher weniger aufleuchtenden Sterne) hielt sich nur phasenweise an diese Vorgabe.

So ging es nur langsam und mit großem Respekt (und manchmal auch Angst!) vor der Dunkelheit, vor Fledermäusen und anderen erahnbaren Tieren, vor dem kalten Wasser und den wenigen Strudeln in den mit Laternen beleuchteten und von erfahrenen „Lebensart“-Männern gesteuerten Zehnerkajaks vorwärts.

Alle merkten: das Maß eigener und gemeinsamer, die anderen nicht hängen lassender Fortbewegungs-Anstrengung ist auch das Maß für das Tempo des Vorwärtskommens!

Als wir am Ziel in Wesel zunächst einfach mit der gesunden Ankunft aller und dann mit heißem Tee belohnt wurden, waren alle froh, diese Herausforderung (der die Menschen früher mit noch größeren Unsicherheiten viel weniger ausweichen konnten als wir heute) glücklich bestanden zu haben.

Als wir die Kanutour nachbesprachen, waren die nächsten Ziele bereits bekannt.

Die Kinder wussten, dass sie nach Ende des Projekts Anfang Februar ins verschneite Rothaargebirge „auf Klassenfahrt“ für eine Woche in ein Waldjugendheim fahren würden. Das gehörte zwar nicht mehr zum Projekt, passte aber vollkommen zu dessen Zielsetzungen.

Schon seit wir in den Rheinwiesen auf die Schafherde getroffen waren, hatten wir immer wieder über Nutz- und Haustiere gesprochen.

Wie hatten sich Mensch und Wolf respektvoll und getragen von gegenseitigen Interessen einander in Urzeiten angenähert; wie hatte sich der Wolf über viele Jahrtausende zum Hund „domestizieren“ lassen; wie kam der Wolf - lange nachdem er seinen dem Menschen zur Entwicklung nutzenden Beitrag geleistet hatte - seit mittelalterlichen Zeiten so schrecklich in Verruf; und wie geht es ihm heute, wo er wieder von Osten nach Westen strebt und vielleicht auch schon im Rothaargebirge auftaucht - möglicherweise gerade dann, wenn wir da sind….?

Natürlich konnten wir keine Wölfe in die Schule holen und auch nicht ihnen in einem Gehege direkt gegenüber treten.

Alle diese auch historisch interessanten Aspekte konnten wir glücklicherweise an einem anderen(für uns zunächst mal) wilden Tier bearbeiten, das inzwischen nicht nur in seiner Heimat Südamerika, sondern vereinzelt auch bei uns als Nutztier anerkannt und respektiert ist.

Im Süden Duisburgs halten zwei ältere Damen auf einem kleinen Lama- Hof insgesamt sechs Lamas und Alpakas.

Es gab für uns die Möglichkeit, im Dezember und Januar zwei Mal einen Morgen lang diese sechs immer beeindruckenden und oft sehr eigensinnigen Tiere angeleitet zu pflegen, zu füttern und während eines „Spaziergangs“ zum Rhein (wo es übrigens fast genauso aussah wie in Alsum!) und zurück zu führen.

Wir hatten diesen Besuch „am grünen Tisch“ gut vorbereitet: die Kinder kannten Alt- und Neuweltkamele, sie wussten, wie die Inkas diese Tiere seit Menschengedenken nutzen (u. a. mit Wolle, mit getrocknetem Kot, zum Gütertransport und „natürlich“ auch mit deren Fleisch!), wie heilig sie ihnen sind, wie Mimik und Schwanzhaltung zu deuten sind und vieles andere mehr.

Einprägsam wurde und blieb das alles erst durch das direkte Erleben, als die Kinder sich überwiegend erfolgreich bemühten, sich respektvoll an die vorgegebenen Umgangsformen zu halten und es schafften, eine Beziehung zu diesen Tieren aufzubauen.

Die Nachbesprechung beim letzten Termin ergab zweierlei: Alle wussten, dass es vorbei ist, und dass „das mit den Lamas“ ein schöner, runder Abschluss gewesen war, aber keiner wollte, dass es vorbei ist - wir auch nicht.

Aber so ist das nun mal mit (der) Geschichte: so richtig vorbei ist sie nie.

Und jedes Mal, wenn man die roten Bäckchen sieht - ganz besonders oft auf der Klassenfahrt (die auch schon wieder Vergangenheit ist), dann fällt einem das wieder ein, auch wenn man keinem Wolf begegnet!

Klaus Merkes, März 2018

P.S. Wir danken der Duisburger Stiftung nochmals ganz ausdrücklich für Ihre großzügige Förderung und „entschuldigen“ uns für unseren sehr umfangreichen Bericht. Für das, was wir alles erlebt haben, ist er eigentlich ziemlich kurz geraten!